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Es war spät und es war kalt in Hamburg

Hamburg im Februar, 15 Grad minus – und es war Nacht. Das leer stehende alte Wohnhaus in Altona, am Ende der Reeperbahn, das von einigen Junkies besetzt wurde, sollte uns heute als Nachtquartier dienen.
Es stank nach Urin. Die Toiletten wurden zwar benutzt, aber es gab kein Wasser zum Spülen. Obwohl ich in der zweiten Etage eine angejahrte freie Matratze gefunden hatte, konnte ich nicht schlafen; mir war einfach zu kalt. Meine Gedanken kreisten um morgen. Werde ich mir ohne Probleme meinen Stoff besorgen können? Außerdem fragte sich jeder, wie lange wir hier noch würden übernachten können, da das Haus ja abgerissen werden sollte. Plötzlich Lärm, laute Stimmen. Polizei!
„Aufstehen und raus hier, ihr Scheißtypen.“
Unsanft wurde ich durchs Haus geschubst. Draußen traf ich auf ein paar Freunde. Bei nächstbester Gelegenheit hauten wir ab, so schnell wir konnten, ehe die Bullen noch darauf kamen, uns zwecks Feststellung unserer Personalien mit zur Wache zu nehmen.
Ich war erst sechzehn Jahre und somit minderjährig. „Minder“, wie sich das anhört, wie „geistig minderbemittelt“. Seit zwei Jahren lebte ich nun schon als Junkie auf Hamburgs Straßen. Keiner suchte oder vermisste mich. Oft wünschte ich mir, mein Vater würde mich aus der Szene rausholen. Die meisten von uns waren noch unter einundzwanzig, die damalige Klassifizierungsgrenze in voll- und minderjährig. Unsere Seelen, die bereits zu viel Schmutz, Erbärmlichkeit und Kälte hatten erleiden müssen, befanden sich allerdings schon längst im Rentenalter.
Es war ein Uhr dreißig, die U-Bahn fuhr schon nicht mehr. Der letzte Bus in Richtung Fuhlsbüttel war auch schon weg. In Fuhlsbüttel wohnte meine Oma. Manchmal ließ sie mich rein, manchmal nicht. Kein Wunder, ich hatte sie wohl schon zu oft enttäuscht. Wir gingen weiter in Richtung Grindel.

„Dort kenne ich eine Wohngemeinschaft“, sagte ich in die grausige Kälte hinein, also stiefelten wir dorthin.
Mir wurde schnell klar, dass ich nicht die richtigen Klamotten trug für diese kristallklare Nacht; es war zu kalt, um zu schneien. Der Mond und die Sterne zeichneten sich deutlich am Himmel ab, was die Dunkelheit und Ungemütlichkeit der alten Häuser in den Straßen noch unterstrich. Die letzten warmen Lichter in den Fenstern schienen schon lange aus zu sein. Nach und nach verkleinerte sich unsere Gruppe. Einige gingen in offen stehende Treppenhäuser, um zu warten, bis die U-Bahn wieder fuhr. Andere kamen bei irgendwelchen Freunden unter, bei denen sie nun wirklich niemanden mehr mitnehmen konnten.
Als ich am Grindel ankam, war ich allein. Da von der WG keiner mehr aufmachte, ging ich ein paar Häuser weiter in ein offenes Treppenhaus. Ich schlich mich in den Keller, damit ich nicht gleich vom Ersten, der zur Arbeit ging, wieder hinausgeworfen wurde. Unter der Treppe lagerte ein weiches Dämmmaterial. Ich machte es mir bequem und deckte mich mit einem Teil davon zu. Es half ein wenig gegen die Kälte von außen. Ich schlief ein.
Mein Schlaf konnte nicht lange gedauert haben, als ich wieder wach wurde, juckte mein ganzer Körper wie verrückt. Dummerweise hatte ich mich in Glaswolle gelegt, und ich fror. Die Stadt erwachte zu neuem Leben, während sich bei mir der Entzug deutlich bemerkbar machte. Ich spürte die hoffnungslose Grausamkeit der Gegenwart. Die Sucht hielt mich stets in einem immer wiederkehrenden Kreislauf von Euphorie und Depression, einer fortschreitenden körperlichen und seelischen Verwahrlosung. Das Schlimmste war, dass ich einfach nicht wusste, welcher Weg aus dieser Hoffnungslosigkeit hinausführt. Zudem konnte ich mir nicht vorstellen, mit den Drogen aufzuhören, und es schien auch niemanden zu interessieren, wie ich lebte.

Der kleine Freddy

Eigentlich war ich immer der Meinung, dass meine Kindheit bis zu meinem sechsten Geburtstag ganz in Ordnung war. Ich wohnte bei meinen Großeltern, den Eltern meines Vaters, während mein Bruder bei den Eltern meiner Mutter lebte. Unsere Eltern hatten sich scheiden lassen, als ich eineinhalb Jahre und Jens gerade ein paar Monate alt war. Wir lebten in Langenhorn, ein Stadtteil am nördlichen Rande von Hamburg, der damals überwiegend aus dem psychiatrischen Krankenhaus Ochsenzoll bestand. Eine ziemlich autarke Anstalt mit eigener Landwirtschaft und Schweinezucht. Es gab eine eigene Stromversorgung durch ein riesengroßes Maschinenhaus, in dem mit Koksfeuerung Dampfmaschinen betrieben wurden, die Strom erzeugten. Es gab neben einem Gemüsegarten, der die Ausmaße von mindestens fünf Fußballfeldern aufwies, auch Getreide- und Kartoffelfelder. Wir Kinder konnten uns überall bedienen. Rüben schmecken, wenn man sie mit dem Taschenmesser säubert, richtig gut. In dem Gemüsegarten fanden wir ganze Erdbeerplantagen, die nur auf uns warteten. Alle an beiden Straßen auf unserer Seite der Anstalt liegenden Häuser gehörten den Bediensteten des Krankenhauses. Mein Opa war Krankenpfleger, wie mein Vater auch, bevor er hier wegzog. Sämtliche Nachbarn arbeiteten irgendwie in der Anstalt: in der Verwaltung, der Pflege oder der Bewirtschaftung.
Die wunderschönen alten Häuser beherbergten jeweils zwei Wohnungen auf jeder Seite übereinander, aber die meisten hatten so große Familien, dass ihnen beide Wohnungen zugeteilt worden waren. Aus der Küche führte eine Treppe hinunter über den Hof zum Stall, der den gleichen Stil wie das Haus aufwies. Hier gab es die Toilette, was eigentlich nur im Winter unangenehm war. In unserem Stall tummelten sich Hühner, Kaninchen und sogar einmal ein Schwein. Es schloss sich ein sehr großer Garten an, in dem Obstbäume, Blumen und Gemüse wuchsen.

Am Ende des Gartens wuchs eine hohe Hecke, die ein Loch aufwies, durch das wir Kinder auf allen vieren hindurchschlüpfen konnten, um in den Gemüsegarten der Anstalt zu gelangen. Wir, das waren Harold, mein bester Freund, sein Bruder Klaus Dieter, wir nannten ihn immer Goofy, und Harolds Schwester Christina, die allgemein nur „Süße“ gerufen wurde.
Unsere Häuser standen direkt nebeneinander. Mein Bruder Jens lebte eine Straße weiter, nur fünf Minuten entfernt. Im Herbst, wenn die Kartoffelfelder abgeerntet waren, nahm mein Opa mich mit zum Stoppeln. Bewaffnet mit einer Hacke ging er auf dem Feld noch einmal durch die Reihen und buddelte die Kartoffeln aus, die bei der Ernte übersehen worden waren. Die Sonne stand manchmal schon sehr niedrig, wenn der Sack gefüllt war. Es roch erdig, und überall auf dem Acker brannten kleine Feuer, in denen das trockene Kartoffelkraut verbrand wurde. Mein Opa und ich saßen an einem Feuer und aßen gare Kartoffeln, die wir vorher in die Glut gelegt hatten.
„Wahrscheinlich wird Oma wieder schimpfen, dass du so dreckig bist und so nach Rauch stinkst!“, bemerkte Opa.
Den Geruch nach feuchtem Ackerboden, Feuer und leicht angebrannten Kartoffeln mag ich immer noch. Ich liebte diese Zeit, aber mehr noch den Sommer, wenn die Kornfelder im leichten Wind wogten, der Himmel blau war und die Lerchen am Himmel ihre Lieder sangen. Oft lag ich dann mit Harold irgendwo im Gras; wir schauten in den Himmel und versuchten, in den weißen Wolken Tiere zu erkennen. Manchmal roch es nach frischem Heu oder grünem Grass. Es duftete nach Blumen, ich spürte die Wärme auf meiner Haut, während ich die Welt mit dem ganzen Körper in mich aufnahm.


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